Tagungsbeitrag
Wunderwald, Anke:
Allianz und Entfremdung – das Kathedralensemble von Santiago de Compostela im Spiegel dynastischer Interessen
Bereits im Jahr seiner Thronbesteigung 1188 äußert König Alfons IX. von León ganz im Sinne seines Vaters Ferdinand II. die dezidierte Absicht, in der Kathedrale von Santiago de Compostela die Grablege der leonesischen Dynastie einzurichten. Aus politischen Gründen ließ sich dieses Vorhaben erst Jahrzehnte später umsetzen und auch der Ausbau des Bischofspalastes zur repräsentativen Residenz verzögerte sich bis in das 13. Jahrhundert. Beide Maßnahmen stellten einen tiefen Eingriff in die Sakraltopographie der Kathedrale dar und aus der Pilgerkirche wurde für einige Dekaden der zentrale Memorialort des Königshauses von León.
Auch der schon im 12. Jahrhundert begonnene Prozess, die Ordensgemeinschaften aus dem Jakobskult zu verdrängen, setzte sich im 13. Jahrhundert ungehindert fort. Mit der Anbindung der Kirche Sta. María de la Corticela an die Kathedrale und dem Bau des heute nur in archäologischen Resten erhaltenen Kreuzgangs wurde das Kathedralkapitel gestärkt. Im Zuge dieser Entwicklung stehen ebenfalls die von Erzbischof Juan Arias forcierten Planungen für eine Chorerweiterung. Hinter der Grundsteinlegung 1258 stand bis zur Einstellung des Bauvorhabens in den späten 1270er Jahren der letztlich gescheiterte Versuch, dem seit der Jahrhundertmitte schwindenden Interesse des Königshauses an Santiago de Compostela einen die Kathedrale in ihrem Gesamtmaß nahezu verdoppelnden Chor entgegen zu setzen und mit den Neubauten der Kathedralen von Burgos und León gleichzuziehen.
Gerade in den Um- und Anbauten des 13. Jahrhunderts kommen sich stetig verändernde kirchenpolitische Interessen und liturgische Neuerungen zum Ausdruck, die im Kontext der Quellenlage vorgestellt und neu bewertet werden.
Dr. Anke Wunderwald, Studium der Kunstgeschichte und Lateinamerikanistik in Berlin; 2004 Promotion im Fach Kunstgeschichte an der Technischen Universität Berlin zum Thema mittelalterliche katalanische Wandmalerei in der Diözese Urgell. Seit 2007 akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl Baugeschichte der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. DFG-Projekt „Die Bauplastik des 13. Jahrhunderts in Santiago de Compostela im Kontext der Rezeption von Meister Matthäus und seiner Werkstatt“.