Tagungsbeitrag

Freigang, Christian:

Glockenklang und Glockenträger. Zur Interdendenz von Musik und Architektur im Mittelalter

Die mittelalterliche Stadt wurde im lateinischen Bereich nicht nur durch materielle Gebilde wie Baulichkeiten und Bilder begrenzt, unterteilt, gegliedert und symbolisch konnotiert. Auch akustische Signale schufen und hierarchisierten eine spezifische Öffentlichkeit, in der unterschiedliche Parteiungen in Allianz oder Konkurrenz zueinander traten. Neben dem Marktschreier und der Stadtpfeiferei waren vor allem die laut tönenden Glocken hierfür die maßgeblichen Instrumente. Die Glocke schuf nicht nur in temporaler Hinsicht Recht, sondern tlw. auch in räumlich-topographischer Hinsicht. Angesichts dieser herausragenden Bedeutungen bei der raumzeitlichen Strukturierung städtischer und religiöser Gemeinschaften eignet den Glocken ein besonderer Objektcharakter: Als Mittler zwischen Himmel und Erde sind sie geweiht und haben heilsstiftenden Charakter, sind vielfach bildlich und schriftlich ausgezeichnet, repräsentieren Heilige und sind intensiv exegetisch kommentiert. Die materielle Kostbarkeit sowie die aufwendige Logistik von Herstellung und Bedienung der Glocken, aber auch ihre musikalische Qualität und ihr rhythmisch streng sich wiederholendes Erklingen stellen ein wichtiges Kriterium in der symbolischen Kommunikation zwischen Himmel und Erde dar. Unmittelbar damit verbunden ist die Errichtung von Glockentürmen, die über ihr Höhe, Größe und Beschaffenheit Anzahl und Vernehmbarkeit die Glockentöne regeln, außerdem die Klangsignale in städtebaulich-optische Markierungen umsetzen. Angesichts dieser vielschichtigen Bedeutsamkeit erscheinen auch historische Veränderungen von Glockenformen, -klängen und –verwendungen von herausragender Signifikanz für Frömmigkeitspraxis, Theologie, Architektur und Städtebau: Klangdauer, Lautstärke und Harmonik verbessern sich Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts in signifikanter Weise: eine Entwicklung, an dessen Ende die auch heute verwendete laut und in mehreren Akkorden tönende sog. gotische Rippe steht. – Thema des Abendvortrags wird sein, diese vielfältigen Zusammenhänge zwischen Sakral- und Stadttopographie einerseits sowie der Akustik und der visuellen Repräsentation von Glockenklängen andererseits zu verdeutlichen. Ein besonderer Akzent liegt dabei auf dem markanten Wendepunkt um 1200, der – schon lange für die Bildkünste und die Architektur konstatiert – eben in enger Relation zu diesem acoustic turn eben dieser Zeit steht.


Prof. Dr. Christian Freigang studierte Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie, Geschichtlichen Hilfswissenschaften und Bibliothekswissenschaften in München, Bonn und Berlin (FU), Promotion 1990 mit der Arbeit „Imitare ecclesias nobiles. Die Kathedralen von Narbonne, Toulouse und Rodez und die nordfranzösische Rayonnantgotik im Languedoc”.

1987–1991 Assistant, später Suppléant maître assistant für ältere Architekturgeschichte an der Ecole d'architecture der Universität Genf, 1991–1999 Wissenschaftlicher Assistent am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Göttingen, 1995–1997 Beurlaubung für einen Forschungsaufenthalt in Paris (Habilitationsstipendien der DFG und des Deutschen Historischen Instituts Paris); 1999 Habilitation mit der Arbeit „Auguste Perret, die Architekturdebatte und die ‘konservative Revolution’ in Frankreich, 1900–1930”. 1999–2003 Oberassistent an der Universität Göttingen; 2001–2002 Lehrstuhlvertretungen an der Universität Hannover und der Universität Freiburg/Br. 2000/2001: Gastdozentur am Deutschen Forum für Kunstgeschichte, Paris (Thema des Studienzyklus: „Das Bauhaus in Frankreich”). 2003-2012 Professur für Kunst- und Architekturgeschichte an der Universität Frankfurt.