Tagungsbeitrag
Reiche, Jens:
Die Kirchenbauten des Umlands von Ravenna: ‚Protoromanik‘ oder Frühromanik?
Der Vortrag soll einen Ausschnitt aus meiner Habilitationschrift zum Thema „Vorromanische Kirchenbauten in Italien (870-1030)“ vorstellen. In ihr sind die noch stehenden 141 Kirchen des Zeitraums zwischen dem Brenner im Norden und Rom im Süden bearbeitet worden.
In Ravenna und seiner Umgebung lassen sich zehn Kirchenbauten mit auffällig eng übereinstimmenden Charakteristika nachweisen: S. Pietro in Sylvis in Bagnacavallo, S. Stefano in Tegurio in Godo, S. Giovanni Battista in Pieve Cesato, S. Lorenzo in Ronta, San Pancrazio bei Russi, San Pietro in Trento, San Vittore in Valle bei Cesena und schließlich die zerstörten Kirchen von S. Andrea und S. Vittore in Ravenna sowie S. Pietro in Pieve Sestina.
Es handelt sich um flachgedeckte Basiliken mit Pfeilern, die T-förmig oder rechteckig mit Spornvorlagen ausgebildet sind, mit meist doppelten Blendbögen zwischen Lisenen am Außenbau und außen polygonalen Apsiden. Auch die Mauertechnik ist recht einheitlich. Für Ravenna und sein Umland sind ferner die freistehenden, runden Glockentürme charakteristisch.
Die Bautengruppe wird von großen Teilen der Forschung bis heute sehr früh angesetzt (6.-8. Jahrhundert) und entweder wegen ihrer spätantiken Züge als „deuterobyzantinisch“ oder wegen einiger auf die Romanik verweisender Charakteristika als „protoromanisch“ eingeordnet. Nur vereinzelt finden sich Datierungsvorschläge ins 11. Jahrhundert. Aufgrund der Einzelformen und der überlieferten Baunachrichten wird nun jedoch ein Zeitansatz der Gruppe zwischen etwa 1020 und 1070 vertreten. Um dies zu belegen, müssen die Einzelformen, vor allem die Außendekoration und die Pfeilerformen, im Zusammenhang der gesamten oberitalienischen Architektur verortet werden. Letztlich stellt sich die Architektur des ehemaligen Exarchats Ravenna als extrem retrospektiv dar.
Dr. Jens Reiche, 2004-2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Georg-August-Universität Göttingen; 2010 Venia Legendi für das Lehrgebiet Kunstgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, Thema der Habilitationsschrift: „Vorromanische Kirchenbauten in Italien (870-1030)“; 2002-2004 Postdoc-Stipendiat am Graduiertenkolleg Kunstwissenschaft – Bauforschung – Denkmalpflege der DFG an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg; 1999-2002 Postdoc-Stipendiat am Kunsthistorischen Institut in Florenz; 1999 Promotion an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Thema der Dissertation: „Architektur und Bauplastik in Burgund um 1100. Die Kirchen von Gourdon und Mont-Saint-Vincent“; 1995 Magister Artium an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Thema der Arbeit: „Otto Wagner: ‚Moderne Architektur‘ (1896)“; 1989-1999 Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Christlichen Archäologie in Bonn und Parma.