Tagungsbeitrag

Schädler-Saub, Ursula:

Das Fragment zwischen realer und virtueller Ergänzung - zu den historischen und theoretischen Grundlagen und ihrer Bedeutung für unser heutiges Handeln

Was ist ein Fragment? Der Versuch einer umfassenden Definition führt zur Entstehungsgeschichte von Fragmenten, die gewollt oder ungewollt sein kann, und zu ihrer Rezeption. Fragmente entstehen durch Alterung der Materialien und durch Naturkatastrophen wie z. B. Erdbeben, aber vor allem durch Menschenhand. Kriegerische Auseinandersetzungen, Vandalismus und Bilderstürmerei verstümmeln Kunstwerke aus ideologischen Gründen – man denke an die schweren Beschädigungen gotischer Kathedralplastik im Zuge der französischen Revolution oder an die Sprengung der Buddhas von Bamiyan durch die Taliban. Was können wir als historisches Dokument anerkennen, was erfordert eine Wiederherstellung als Zeichensetzung gegen Barbarei?
Fragmente entstehen auch im Laufe der Zeit, durch fehlende Pflege, Vernachlässigung und letztlich Beseitigung von Kunstwerken, die nicht mehr dem Zeitgeschmack entsprechen. Bei Wandmalereien führt dies zu Übertünchungen – und bei deren Abnahme werden voller Entdeckerfreude erneut Fragmente geschaffen, diesmal durch unsachgemäße Freilegung. Fragmente entstehen auch durch Dekontextualisierung, befördert durch Sammlerleidenschaft und den Antiquitätenmarkt – man denke an die Musealisierung von Tafelmalereien und Schnitzfiguren entsorgter Altarretabel. Die museale Präsentation kann zur Ästhetisierung des Fragments führen, die Präsentation in situ dagegen als Herausforderung aufgefasst werden, den vermeintlich ursprünglichen Zustand wiederherzustellen.
Die Wiederauffindung antiker Fragmente veranschaulicht seit der italienischen Renaissance verschiedene Herangehensweisen an das Fragment, seine Interpretation und Präsentation – man denke an die Diskussionen über die Ergänzung der Laokoon-Gruppe oder an die Weigerung Michelangelos, den Torso von Belvedere zu ergänzen, dessen Schönheit durch jegliche Art späterer Hinzufügungen nur beeinträchtigt worden wäre. Von Michelangelo über Auguste Rodin bis heute ist der Torso auch Sinnbild für die Unmöglichkeit der Vollendung eines Kunstwerks: das Unvollendete wird zur existenziellen künstlerischen Form.
Die Akzeptanz des Fragments ist abhängig von kulturellen Traditionen und Sehgewohnheiten. Georg Dehio fordert den Respekt vor dem geschichtlich Gewordenen, das seine eigene Bedeutung erlangt hat. Cesare Brandi hebt hervor, dass jedes Fragment potenziell die künstlerische Aussage des verlorenen Ganzen enthält. Diese potenzielle Einheit soll sich nicht nur Experten erschließen. Brandi entwickelt deshalb klar identifizierbare Integrationsmethoden als Sehhilfe für die Betrachter.
Die Endlichkeit des Materials von Kunstwerken muss uns bewusst sein – wie schon John Ruskin und Georg Dehio erkennen, sind der Erhaltung damit irgendwann Grenzen gesetzt. Alois Riegl sieht hier die Bedeutung der Dokumentation, welche zumindest Informationen zu einem Kunstwerk über dessen Lebensdauer hinaus erhalten kann. Künstlerische Kopien und Teilrekonstruktionen des 19. und 20. Jh. belegen diese Auffassung, oft auf der Grundlage genauer Studien des Originals.
Wie verändert sich der Umgang mit dem Fragment im digitalen Zeitalter, mit der rasanten Entwicklung neuer technischer Möglichkeiten? Werden digitale Methoden der Ergänzung und Präsentation materielle Eingriffe in das originale Fragment unnötig machen, seinen Schutz und seine Wertschätzung fördern? Oder werden beliebig wiederholbare 3D-Rekonstruktionen die Frage nach der fachgerechten Erhaltung und Vermittlung des Originals zunehmend in den Hintergrund drängen? Nötig ist eine kritische Evaluation der neuen technischen Möglichkeiten in der Restaurierung, um sie als hilfreiches Instrumentarium für die Erforschung und Vermittlung von fragmentarischen Kunstwerken einzusetzen, ohne sich von der glitzernden Vielfalt ihrer Angebote blenden zu lassen. Verbindliche ethische Grundsätze helfen uns dabei; sie fußen auf den Theorien und Prinzipien des 20. Jahrhunderts, müssen aber auch neue Herausforderungen berücksichtigen.

The fragment between real and virtual reintegration - on the historical and theoretical foundations and their significance for our actions today

Fragments are caused by the ageing of materials and by natural disasters, but above all by human hand. Vandalism and armed conflicts need to be mentioned here, but also neglect or decontextualization due to the change in contemporary taste and lack of empathy. The acceptance of the fragment depends on cultural traditions and viewing habits. Its appreciation can be aesthetically, historically and philosophically justified. The fragment poses a challenge for research to develop the best possible methods for its investigation, documentation and interpretation. Conservation-Restoration approaches to the fragment are still characterized by a wide range of possibilities, from consciously refraining from any intervention to careful reintegration and the restoration (i.e. partial reconstruction) of the supposedly original condition.
How does the handling of the fragment change in the digital age, with the rapid development of new technical possibilities? Will digital methods of reintegration and presentation make material interventions in the original fragment unnecessary, promote its protection and appreciation? Or will 3D reconstructions that can be repeated at will increasingly push the question of the professional preservation and mediation of the original into the background? What is needed is a critical evaluation of the new technical possibilities in conservation-restoration in order to use them as a helpful tool for researching and communicating fragmentary works of art without being blinded by the glittering variety of what they offer. Binding ethical principles help us in this; they are based on the theories and principles of the 20th century, but must also take new challenges into account.

Prof. Dr. Dipl. Rest. Ursula Schädler-Saub
ist Professorin für Geschichte und Theorie der Restaurierung und Kunstgeschichte an der HAWK in Hildesheim, Fakultät Bauen und Erhalten, Studiengänge Konservierung und Restaurierung, Hildesheim und Sprecherin der ICOMOS-AG Konservierung-Restaurierung. Kontakt: ursula.schaedler-saub@hawk.de
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